_____

Was heißt und zu welchem Ende studiert man historische Medizin?
Karl Eduard Rothschuh und die historische Medizin

 

 
Richard Toellner

© 2004 by Prof. Dr. med. Richard Toellner

 

Am Dienstag, dem 26. Mai 1789, also exakt vor 215 Jahren und 6 Wochen hielt Schiller in Jena seine Antrittsvorlesung als Professor für Geschichte. Am 21. Mai hatte er das Ereignis noch lateinisch den Illustrissimis Generosissimis ac Nobilissimis Commillitonibus angekündigt ohne sein Thema zu nennen. Der Titel seiner Vorlesung, die er auf zwei Kollegstunden verteilte – damals nahm man sich noch die Zeit – „Was heißt und zu welchem Ende studirt man Universalgeschichte?“ hat Schule gemacht. Ungezählte Hochschullehrer sind bis heute seiner Formulierung gefolgt, wenn sie ihr Fachgebiet und dessen Nutzen bei Antritts-Abschieds- oder sonstigen Vorlesungen vorstellen wollten. So auch ich, ganz im Sinne von Karl Eduard Rothschuh.

Völlig traditionell verspricht Schiller seinen hochgeschätzten Zuhörern, die in großer Zahl gekommen waren, „vortreffliche junge Männer, die eine edle Wißbegierde um mich her versammelt, und in deren Mitte schon manches wirksame Genie für das kommende Zeitalter aufblüht“, so schmeichelt er ihnen, diesen hochwürdigen Herren verspricht er beim Durchwandern des „großen weiten Feldes der allgemeinen Geschichte“, Belehrung, Vorbilder, Erkenntnis- und Lustgewinn; in seinen Worten: „dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem thätigen Weltmann so herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse und Jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens.“ Schiller lebt noch gesichert im Haus einer Historia, die nach Ciceros Dictum Vitae magistra ist. Ganz unbefangen kann er, als Kind der Aufklärung, die Beschäftigung mit Geschichte durch ihren Nutzen rechtfertigen. Alle Wissenschaft wird allein zu Nutz und Frommen betrieben, rechtfertigt sich durch ihre Utilitas. Doch Belehrung, Vorbild, Erkenntnis- und Lustgewinn allein genügen Schiller nicht, um darzulegen, zu welchem Ende, warum man Geschichte studieren soll. Es geht um mehr, es geht um Höheres, es geht um die Perfektibilität des Menschen, es geht um die Vervollkommnung der Menschheit. Von nichts waren die Menschen im Zeitalter der Aufklärung so überzeugt, von nichts so durchdrungen, als davon, daß Sinn und Ziel aller Geschichte des Menschen die seiner Vervollkommnung sei. Freilich, nicht der durch genetische, pharmakologische oder chirurgische Manipulation optimierte, durch leistungssteigernde Gedächtnis- und Aufmerksamkeitspillen vervollkommnete Mensch, wie in unseren Tagen, sondern die Vervollkommnung der Menschlichkeit durch Überlieferung, Bewahrung und Vermehrung des „reichen Vermächtnißes von Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit“. Diesem Ziel der Geschichte glaubten sie sich nah. So ist Geschichte für Schiller „eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfang des Menschengeschlechtes hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinandergreifen.“ Und wenn auch der endliche Verstand des Menschen nie die Geschichte ganz und vollständig wird überschauen können und die Überlieferung bruchstückhaft ist, so ist „die kleine Summe der Begebenheiten, die nach allen bisher geschehenen Abzügen zurückbleibt, der Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstande.“ Und „aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß haben.“ Die Universalgeschichte gibt Antwort auf die Frage, wie aus dem „alten Celten“ der „verfeinerte Europäer des achtzehnten Jahrhunderts“, wie der „ungesellige Höhlenbewohner zum geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann hinaufstieg.“ Geschichte ist Fortschritt.

„Je öfter und mit je glücklicherem Erfolg“ der philosophische Geist „das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen vermag, desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung ineinander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden.“ Schließlich „bringt er einen vernünftigen Zweck in dem Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte.“ Und wenn das Ziel der Weltgeschichte auch weit über die Gegenwart hinausführt, so ist sich Schiller doch sicher: „Unser menschliches Jahrhundert herbey zu führen haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben.“

In seinem genialen, mitreißend formulierten Programm zeigt Schiller sich ganz auf der Höhe der Aufklärungshistorie. Sein Begriff von Geschichte ist schon ein Kollektivsingular, „eine Geschichte über den Geschichten“ (Droysen), ein empirischer Erfahrungsraum, in dem sich das Gewesene erforschen, auf den Begriff bringen und für unsere Gegenwart fruchtbar machen läßt. Freilich, diese Geschichte ist die Geschichte der Vervollkommnung der Menschheit, allein die Geschichte des Menschen, die von dem rohen, ungeschlachten Wesen der grauen Vorzeit zu „dem verfeinerten Europäer des achtzehnten Jahrhunderts“ führt. Und diese Geschichte lehrt, wie die barbarische „Freyheit des Raubthiers“ der „edlen Freyheit des Menschen“, wie der egoistische erbarmungslose Kampf um Macht und Herrschaft dem Frieden weicht… „Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber nicht mehr zerfleischen.“ Der Zustand der „bürgerlichen Gesellschaft“ in Europa nähert sich der Vollkommenheit. Dies lehrt die Geschichte und jedes Glied in der Kette der Menschengeschlechter ist bestimmt, „zu dem reichen Vermächtniß von Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen“, auch aus seinen Mitteln einen Beitrag zu leisten. Damit ist jedem „eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgethan, zu der wahren Unsterblichkeit meyne ich, wo die That lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr Zurückbleiben sollte.“ Der letzte Satz der Vorlesung. Welch hinreißender Pathos!

Wie unsicher das historische Urteil sein kann, die Geschichte den Geschichtsschreiber überholt und ins Unrecht setzt, musste Schiller freilich selbst erfahren. Er hielt seine Vorlesung am Vorabend der französischen Revolution. Als er die Rede drei Jahre später neu herausgibt, bleibt der Text völlig unverändert, bis auf zwei kleine Wörter. Der Westfälische Friede zu Münster begründet den „neuen allgemeinen Frieden“ nicht mehr auf „ewig“ sondern nur noch auf „Jahrhunderte“. Und die Zuversicht, die Hausgenossen der europäischen Staatenfamilie könnten sich nicht mehr zerfleischen, wird nun durch ein skeptisches „hoffentlich“ eingeschränkt. Es ist eben, wie Schiller ja selbst angemerkt hatte, „zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte ein merkliches Missverhältnis“. Auch den bitteren Unterschied von apostrophiertem Studenten-Ideal und erlebter Wirklichkeit eines frustrierten Hochschullehrers musste er kennen lernen. Die gleich zweimal sofort im Druck erschienene Antrittsvorlesung schickt er an Freund Körner mit der Bitte um Kritik: „So wie Du sie lesen wirst, habe ich sie freilich nicht gehalten. Ich glaubte dem Publicum etwas mehr Ausgearbeitetes schuldig zu sein als einem Haufen unreifer Studenten.“ Mit dem bald einsetzenden Hörerschwund schwand auch seine Lust an den Vorlesungen. Schon nach vier Jahren stellte er sie endgültig ein und kündigte sie nur noch an: „si per valetudinem licuerit“, und die Gesundheit erlaubte es eben nicht mehr.

Dennoch: Blaß werden könnte man vor Neid, wenn man sich vergegenwärtigt, wie selbstverständlich die Menschen in Alteuropa, auch noch im aufgeklärten Jahrhundert, in ihrer Geschichte lebten, sich ihrer Geschichte vergewisserten, ihr bei allem kritischen Ressentiment mit Respekt begegneten, die Tradition auf ihre Beglaubigung hin prüften, sie aber weder pauschal verwarfen, noch sich der Überlieferung einfach unterwarfen. Wir, die wir das Scheitern idealistischer und marxistischer Geschichtsphilosophien, den Historismus und Neopositivismus hinter uns haben und verstört den Propheten der Postmoderne lauschen, die uns verkünden, daß „die große Erzählung ihre Glaubwürdigkeit verloren“ hat, ja selbst „die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung für den Großteil der Menschen schon verloren ist“ (Lyotard), wir begegnen unserer sinnlos gewordenen, ihrer Einheit und ihrer Ziele beraubten Geschichte unsicher und orientierungslos, wagen „das Argument der Geschichte“ (Gall), wenn überhaupt, nur zaghaft zu gebrauchen, und obwohl doch auch wir nur in und durch Geschichte leben, spielen wir trostlose Sprachspiele.

Karl Eduard Rothschuh hat den Tanz der Intellektuellen um das goldene Kalb, das da heißt „Ende der Geschichte“ mit milder Verachtung wahrgenommen. Seine Sache war das nicht. Seine Sache, die Sache seines äußerlich durch viele Metamorphosen gehenden Berufsweges, seines innerlich ganz folgerichtigen Lebensweges ist immer „das starke sachliche Interesse an dem Phänomen Wissenschaft als solchem“ gewesen, wie er bekennt. Sein nüchterner Sinn, seine Skepsis gegen Überschwang und Pathos, sein ausgeprägtes Gefühl für menschlichen Anstand haben ihn in der Hochburg der nationalsozialistischen Ärzteschaft Alt-Rehse, in Krieg- und Nachkriegszeit, bei der Studentenrevolte von 1968 und in den Wirren der Hochschul- und Studienreformen geschützt vor den Versuchungen wechselnder Ideologien. Heute vor 96 Jahren, am 6. Juli 1908 ist er in Aachen geboren und das Motiv seines Lebens hieß: Studium der Wissenschaft.

Das Studium beginnt Karl Eduard Rothschuh als Knabe mit zwölf Jahren. Das erste uns überlieferte Werk heißt „Studium der Vogelstimmen“. Es ist in sauberer Handschrift geschrieben, mit Titelvignette und Vorwort versehen und enthält den Versuch, die Vogellaute ohne Noten zu notieren, 1921 begonnen, 1932 beendet. Im Leben des hoffnungsvollen Jünglings nahm der Aachener Stadtwald offenbar breiteren Raum ein als die Schule. Daher fanden die fromme Mutter und der als Schiffsarzt weltbefahrene und als Farmarzt in Nicaragua welterfahrene Vater, der Junge sei in der Landwirtschaft besser aufgehoben. So verließ Karl Eduard 1924 das Humanistische Gymnasium seiner Vaterstadt und tat als Landwirtschaftseleve im Münsterland auf einem großen Bauernhof Dienst, sammelte seine ersten Lebenserfahrungen, verspürte bald das Bedürfnis, die Praxis durch Theorie zu fundieren. Nach dem Studium der Landwirtschaft, das er 1929 in Bonn-Poppelsdorf mit dem Examen für praktische Landwirte abschließt, gewinnt der Wunsch, weiter zu studieren, Arzt zu werden, die Oberhand. Karl Eduard Rothschuh holt binnen Jahresfrist das Abitur nach und nimmt im Wintersemester 1930/31 in Hamburg das Studium der Medizin auf, das er dann in München, Frankfurt am Main und Wien fortsetzt und in Berlin 1936 mit dem Staatsexamen abschließt.

Rothschuhs Weg zur Medizingeschichte war noch lang und er führte, was wir keinesfalls übersehen dürfen, wenn wir seine Auffassung von der Geschichte und ihrer Funktion für das Studium der Medizin verstehen wollen, über seine Leidenschaft zur Theorie, zur Theorie der Medizin, deren Lage ihm verworren schien. Während eine unaufhaltsam spezialisierende medizinische Wissenschaft und Technik immer neue Triumphe feierte, wuchs das Unbehagen in und an einer Medizin, die über Einzelgegenständen ihren Gegenstand, über Detailproblemen ihre Aufgabe aus dem Blick zu verlieren drohte und sich eigentümlich hilflos gegenüber den Leiden des in seiner sozialen Umwelt und durch die technisch-industrielle Zivilisation gefährdeten und gestörten Menschen erwies.

Längst schien auch ein – wenigstens in seinen Grundzügen – einheitliches und verbindliches Berufsbild des Arztes verloren. Zwischen den Extremen einer technisch-rationalen Konzeption vom Arzt als Dienstleister, als dem auf eng begrenztem Gebiet fachkompetenten Funktionär im Dienstleistungsgroßbetrieb Gesundheitswesen und der unter vielen Erscheinungsformen verborgenen irrationalen Sehnsucht nach dem alle Lebensprobleme lösenden Magier schwankte das Bild des zukünftigen Arztes.

Gunter Mann hat in seinem unvergeßlichen Gedenkvortrag auf der Akademischen Trauerfeier für Karl Eduard Rothschuh eindringlich die Begegnung zwischen dem suchenden Studenten Rothschuh und dem ihm den Weg weisenden Lehrer Richard Koch im Schicksalswinter 1932/33 geschildert und in ihrer Bedeutung beschrieben. In der öffentlichen Diskussion um die moderne Medizin waren damals schon – was wir heute so leicht vergessen – Schlagworte wie Alternative Medizin, Ganzheitsmedizin, Biologische Medizin im Schwange. Sie waren Ausdruck – damals wie heute – eines eher unbestimmten doch starken Unbehagens am Zustand einer wissenschaftlichen Medizin, die sich immer mehr in Disziplinen zersplitterte, auf immer engere Bereiche spezialisierte und unentwegt in immer begrenzterer Detailforschung ihrem im 19. Jahrhundert formulierten Ziel nachjagte, den Menschen auf Struktur und Funktion, auf Physiologie zu reduzieren und diese „in die Physik und Chemie der Lebensvorgänge aufzulösen“, wie Rothschuh später formulierte. Auf diesem Wege schien die wissenschaftliche Medizin die Lebensvorgänge selbst, deren Sinnhaftigkeit und Gebundenheit an Organe und Organsysteme, die Ganzheit des Menschen, die Einheit seiner Person, die Ganzheit seiner Lebenszusammenhänge mehr und mehr mit deletären Folgen für ihre Praxis aus dem Blick zu verlieren.

Der junge, auf Umwegen zum Studium der Medizin gelangte und dabei gereifte Student Rothschuh teilte dieses Unbehagen. Unzufrieden mit dem bisher im Studium Gelernten und Erfahrenen strebte er ungeduldig im Chaos des Wissens nach Zusammenhang, Übersicht, einsichtstiftender Ordnung. Den Entwurf einer theoretischen Biologie in der Tasche suchte er Verständnis, Belehrung und Wegweisung bei dem jüdischen Arzt und Gelehrten in Frankfurt, der sich mit Arbeiten über philosophische, erkenntnistheoretische und methodologische Fragen der Medizin einen Namen gemacht hatte. „Richard Koch und Karl Eduard Rothschuh begegnen sich an bestimmten Schnittpunkten ihres Denkens. Sie strebten einer Lebenstheorie zu, die den Menschen an sich, den Organismus in seinen bestimmenden Kräften und Strukturen sucht, um damit ärztlicher Kunst und Therapie vor allem hilfreich zu werden und neue Tore zu öffnen“. So beschreibt Gunter Mann die Begegnungssituation und das zentrale Anliegen der beiden ungleichen Männer.

Eine erste Frucht dieser Begegnung war ein Aufsatz, den der Student Rothschuh 1935 in der „Klinischen Wochenschrift“ veröffentlichte. „Wir leben in einer Zeit, deren Fragestellungen nicht mit der Darstellung von einzel-wissenschaftlichen Ergebnissen beantwortet werden können. Die Medizin bedarf über ihre speziellen Ergebnisse hinaus einer allgemeinen Theorie, welche dem Arzte Antwort auf seine Fragen und Ruhe in seinem Handeln zu geben vermag“. So beantwortete und begründete Karl Eduard Rothschuh die selbstgestellte Frage: „Brauchen wir in der Medizin Theorie?“ und postulierte energisch die Notwendigkeit „einer theoretischen Prüfung“ sowohl der Denkvoraussetzungen in der medizinischen Wissenschaft“, als auch ihrer „Wertsetzungen“. Denn: „das ärztliche Berufsethos, seit Jahrtausenden im Eid des Hippokrates verkörpert, bedarf heute einer neuen Betrachtung, da die Stellung des Arztes als Sachwalter der Gemeinschaft in der Zukunft in harte Konflikte mit seiner alt überlieferten Stellung als Sachwalter des individuellen Wohlergehens geraten muß.“ Vor dem Hintergrund des Dritten Reiches, in dem er geschrieben wurde, ist dies ein ebenso nüchterner wie ahnungsvoller Satz.

In dem bis zu Kochs erzwungener Emigration nach Rußland fortgeführten Gedankenaustausch zwischen Lehrer und Schüler um eine Theorie des Lebendigen, die die Lebensphänomene unverkürzt, adäquat, widerspruchsfrei und konsistent abbildet, gewinnt notwendigerweise der Begriff des Organismus und seiner Ganzheit die größte Bedeutung. Rothschuh hatte das Grund- und Leitthema seines wissenschaftlichen Lebens – und das war sein ganzes Leben – gefunden, an dem er zäh und konsequent auf seinem Weg durch Klinik, Physiologie und Medizingeschichte festgehalten hat. Dieses Thema ist in der Tat das Zentralthema der Physiologie und Lebenstheorie Karl Eduard Rothschuhs gewesen. ‚Ganzheit und Organismus’ war ein Sachverhalt, der ihn faszinierte, um dessen Klärung er gerungen hat, der immer – direkt oder indirekt – der Gegenstand seiner Forschung blieb. Das Ergebnis dieser Forschung, seine Theorie des Organismus (2. Aufl. 1963) hat er für sein wichtigstes und bestes Buch gehalten. Heute schon ist es ein Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, Teil ihrer Problem-, Denk- und Ergebnisgeschichte.

Die verhandelte Sache jedoch bleibt in der wissenschaftlichen Diskussion, wird auf ihren systematischen Gehalt abstrahiert, wird abgelöst von ihren Ursprüngen und deren historischen Bedingungen, wird als Problem, Argument, Denkfigur oder Theorie festgeschrieben oder verworfen, modifiziert oder weitergeführt und beginnt – scheinbar – ein Eigenleben.

Doch die Sache und die Diskussion um die Sache ist für den Historiker nicht ablösbar von den Menschen, die die Sache betreiben, nicht ablösbar von den biographischen, d.h. kulturellen, politischen, ökonomischen, sozialen Bedingungen der Menschen, die um die Sache streiten, nicht ablösbar von ihren Hoffnungen und Erwartungen, von ihren Befürchtungen und Enttäuschungen, von ihren Vorlieben und Abneigungen, von ihren Eitelkeiten und Sehnsüchten. Das Credo der neuzeitlichen Wissenschaft, daß der Mensch als Subjekt ganz hinter der Sache zurücktreten müsse, daß der Denker hinter dem Gedachten, der Beobachter hinter dem Beobachteten, der Experimentator hinter dem Experiment, der Ausleger hinter der Interpretation, der Erfinder hinter der Erfindung, der Theoretiker hinter der Theorie zurücktreten müsse und könne, so daß der Autor bestenfalls als Name zur Kennzeichnung der Sache, als Eponym, erhalten bleiben könne, dieses Credo muß der Historiker als Illusion entlarven.

Die Reduktion von Wissenschaft auf reine Rationalität, die systematische und methodische Elimination der Subjekte aus der Wissenschaft hat den schönen, aber höchst gefährlichen Schein erzeugt, Wissenschaft sei eine Veranstaltung des reinen Geistes, geleitet von der Suche nach Wahrheit, nur der Wahrheit verpflichtet, sich der Wahrheit im unendlichen Erkenntnisfortschritt annähernd. Und da nach der klassischen Transzendentalienlehre das Wahre, zugleich das Ganze, das Eine, das Schöne und vor allem auch das Gute ist, erschien eine dem reinen objektiven Erkenntnisfortschritt, der Wahrheit verpflichtete Wissenschaft per se als gut. Wissenschaft an sich, wenn sie in ihren Grenzen und bei ihrem Geschäft blieb, konnte nicht anders als gut sein und bedurfte keiner Rechtfertigung. Nur ihr falscher, verwerflicher, verderblicher oder gar verbrecherischer Gebrauch war böse. Doch der Mißbrauch blieb der Verantwortung des nur seiner Wissenschaft verpflichteten Wissenschaftlers entzogen. Karl Eduard Rothschuh gehörte noch zu einer Generation von Wissenschaftlern, die sich dieser – bona fide - vollzogenen Selbststilisierung der Wissenschaft letztlich nicht zu entziehen vermochten. Trotz aller Skepsis und wachsender Zweifel war und blieb er Scientist und bekannte sich dazu.

Es war eine richtige und wichtige Klarstellung in der ansonsten als Interpretationsmodell der Wissenschaftsgeschichte höchst fragwürdigen Paradigmenlehre Thomas Kuhns, daß Wissenschaft nicht eine Veranstaltung der reinen Vernunft und ihr Fortschritt nicht der kontinuierliche Zuwachs an rationalem Erkenntnisgewinn ist, sondern daß Wissenschaft, auch in ihren Ergebnissen, an die historischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis gebunden bleibt, d.h. von den zeitgebundenen Bedingungen, in denen der agierende Wissenschaftler denkt und lebt. Dafür liefert Rothschuh selbst einen Beleg. Im Schlußwort zu seinen Prinzipien der Medizin verteidigt er die Abstraktheit seiner „Prinzipien“ als „Grammatik für die Medizin“ und schließt mit den Sätzen, die seine Geschichte beschreiben:

„Zur Rechtfertigung der ‚Prinzipien’ sei gesagt, daß der Autor seit seinen Studienzeiten etwas gleichartiges in der Medizin vergeblich gesucht hat. Die ältere Medizin besaß ein durchdachtes Konzept ihres Selbstverständnisses, die jüngere Medizin verlor das Interesse daran, aus mancherlei Gründen. Die ‚Prinzipien’ sind auf dem Wege vom naturbeobachtenden Schüler, über den reflektierenden Studenten, den praktizierenden Arzt, den experimentierenden Physiologen zum Methodologen der Medizin und nach und nach zur jetzigen Gestalt herangereift.“ Der Medizinhistoriker kommt nicht vor; er ist Teil der Methodologen.

Mit anderen Worten: die Mitteilung des Ergebnisses einer wissenschaftlichen Bemühung genügt nicht. Ihr Anlaß (Mangel), ihr Zweck (durchdachtes Konzept des Selbstverständnisses der Medizin), ihr Ziel (Vollkommenheit) müssen dazu angegeben und das Ergebnis will als Produkt einer Geschichte, einer Biographie, verstanden werden. Das heißt wiederum nichts anderes, als daß wir das Verständnis eines wissenschaftlichen Ergebnisses – und sei es so abstrakt, wie es wolle – verfehlen, wenn wir nicht z.B. die Intention des Denkers oder die Funktion des Nachdenkens und die Absicht des Gedachten in ihrem historischen Kontext ernstnehmen. Je höher die Abstraktion, um so schwerer ist es gewiß, sie in ihren historischen Bedingungen zu erkennen, weshalb sich so viele Systematiker außerhalb der Geschichte wähnen, doch keine Abstraktion führt aus der Geschichte hinaus. Sie aber ist die einzige Wirklichkeit, die wir haben und erkennen können. Ein wissenschaftshistorisches Phänomen will also in den historischen Bedingungen seiner Möglichkeit erkannt sein, ehe es ganz und richtig erkannt ist.

Man verfehlt das Verständnis von Rothschuhs Theorie des Organismus und seiner Prinzipien der Medizin, wenn man deren Motivation, Funktion und Intention nicht in Rechnung stellt. Der Theoretiker Rothschuh war seinem Selbstverständnis nach Arzt, d.h. ein Mann, der auf Handeln und praktische Bewährung aus ist. Sein Lieblingssatz: „Nichts ist praktischer als eine gute Theorie“ weist ihn als Mann aus, der eine „Grammatik für die Medizin“ erarbeitet, nicht, weil er die Grammatik als Selbstzweck liebt, als Lehre von der Struktur, Ordnung und Regelhaftigkeit der Sprache, sondern weil sie Mittel zum richtigen Gebrauch, zur Beherrschung der Sprache ist. Erst wer die Prinzipien der Medizin kennt, beherrscht die Medizin als Praxis. Er hoffte auf diese Einsicht; daß er für sie so wenig Resonanz fand, hat ihn tief enttäuscht.

Auf den Inhalt der „Theorie des Organismus“ kann ich hier nicht eingehen, doch wenn wir auf die Absichten dieses Werkes achten, nähern wir uns der Vorstellung, die Karl Eduard Rothschuh sich von Begriff und Funktion der Geschichte gemacht hat.

Es lassen sich drei Absichten benennen: Befreiung, Synthese und Gewinn, die – wie man sofort sieht – auf völlig verschiedenen Ebenen liegen.

1. Rothschuh will die Physiologie als „Lehre vom Organismus und der Natur des Menschen“ von den historischen „Präokkupationen“ durch Philosophie und Theologie befreien, die Probleme aus ihrer „weltanschaulichen Besetzung“ lösen und durch „richtigere Vorstellungen aus den Ergebnissen der Erfahrenswissenschaften“ ersetzen, das „wissenschaftliche Menschenbild“ gegen das philosophische und theologische abgrenzen.

2. Rothschuh will gegen die Zersplitterung einer „analytischen Detailforschung“, die „die Berührung mit den allgemeinen Grundproblemen mehr und mehr verliert“, eine „Synthese“ setzen, die „Bios“, „Psyche“ und „Pathos“ als „einen einheitlichen Komplex von fest zusammenhängenden Sachverhalten behandelt“, der „nur als Ganzes widerspruchslos auf ein adäquat strukturiertes Gedankenmodell übertragen“ werden kann. Eine solche Synthese ist zugleich die Wiedergewinnung einer alten „Aufgabe der Physiologie, im Universitätsunterricht ein Bild des Menschen in der Medizin zu entwickeln.

3. Rothschuh verspricht sich von seiner Synthese einen dreifachen Gewinn:

a) Den allgemeinsten Gewinn der ‚Theorie des Organismus’ sehe ich in der Möglichkeit, eine Fülle von Detailwissen sinnvoll einordnen zu können. Das bedeutet mehr Übersicht, straffere Logik, größere Klarheit, bessere Verfügbarkeit und neue Fragestellungen.

b) Einen besonderen Gewinn für die Medizin sehe ich darin, daß sie sowohl eine biotechnisch-kausale Medizin zu rechtfertigen wie eine richtig verstandene biologische Medizin zu begründen gestattet.

c) Die Rechtfertigung kausal-analytischer Forschung, der er selbst in der Physiologie einen Großteil seiner Lebensarbeit gewidmet hat, ist ihm wichtig, doch deren Ergebnisse ergeben noch keine Physiologie als Lehre von der Natur des Menschen:

„Die Physiologie bedient sich zwar physikalischer und chemischer Methoden, doch ist ihr Gegenstand mit den Begriffen der Physik und Chemie nie vollständig zu beschreiben, außer unter Vernachlässigung der fundamental anderen Art seiner ‚Organisation’ zum Vollzug von ‚Leistungen’. Zum Verständnis des Lebendigen brauchen wir eben Kausalbegriff und Organisationsbegriffe nebeneinander. Das ist kein Rückfall in Vitalismus, sondern ein Fortschreiten zu einer neuen Art der szientifizierenden Behandlung des Gegenstandes der Biologie und Medizin, der sich dabei eine Fülle bisher schwer begreiflicher Phänomene erschließen.“

Die Erschließung und das Verständnis neuer Phänomene, darin liegt der dritte Gewinn einer Theorie des Organismus.

Die so skizzierten Absichten des Autors, seine Zwecke und Ziele, wären nun nicht nur auf ihren historischen Kontext, d.h. auf seine Biographie und seine Zeit hin zu befragen, es wäre auch zu prüfen, wieweit das Mittel, und die Theorie des Organismus ist erklärterweise ein Mittel, von seinen Zwecken und deren historischem Kontext her bedingt und seine Inhalte davon bestimmt wurden. Beides kann ich hier nicht leisten. Dem ersten Unternehmen hätte Rothschuh als Historiker der Medizin zweifellos als einer Anlaß- und Entwicklungsgeschichte der Theorie zugestimmt, das zweite jedoch, die Prüfung der Theorie und ihrer Inhalte selbst auf ihre historischen Implikationen, auf die Historizität ihres Gewebes hätte er vermutlich als illegitim abgewiesen. Hatte er nicht seiner Theorie des Organismus eigens ein Kapitel vorgeschaltet, indem er die „Methodik der Scientifikation“ entfaltet mit der Absicht, „auf die verschiedenen Betrachtungsweisen hinzuweisen, mit denen die gesetzliche Struktur der Erfahrungswelt auf ein isomorphes Aussagemodell übertragen und szientifiziert werden kann“? War es nicht gerade Aufgabe dieser Methodik, innerhalb „der Grenzen möglicher Erfahrung“ zu sicheren, intersubjektiv überprüfbaren, gesetzmäßigen Aussagen über eine „subjektunabhängige reale Welt konstanter Gesetzlichkeit“ zu kommen? Und gehörte die Geschichte nicht ausdrücklich unter „die Gegenstände“, die „sich wohl systematisch durchdenken, aber nicht szientifizieren“ lassen? Nirgends erweist sich Rothschuh so sehr als der Gefangene seiner eigenen Geschichte als dort, wo er glaubt, auf dem sicheren und festen Erkenntnisgrund einer „subjektunabhängigen realen Welt konstanter Gesetzmäßigkeit“ zu stehen.

In dem Aufsatz: Medicina Historica. Zum Selbstverständnis der historischen Medizin (Janus 1980) hat sich Karl Eduard Rothschuh am Ausführlichsten und im Zusammenhang über seine Auffassung von Geschichte geäußert, die Summe seiner historischen Arbeit zusammenfassend, von dem großen Auftakt seiner „Geschichte der Physiologie“ an, angelegt als „Darstellung der Entwicklung physiologischen Denkens (1952, 2. Aufl. englisch 1973) über eine dichte Folge von Arbeiten zu Ursprung und Entwicklung der neuzeitlichen medizinischen Wissenschaft, über Werden und Wandel ihrer wissenschaftlichen Modelle, über die Rolle des Forschers und dessen in seiner Zeit wirksamen Ideen bis hin zu dem großartigen Gesamtbild der „Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart“ (1978). Der Aufsatz ist Gerrit Arie Lindeboom zum 75. Geburtstag „in Dankbarkeit“ gewidmet. Der aufrechte niederländische Patriot und überzeugungstreue Christ hatte die kühle, nur allzu berechtigte Distanz, mit der die Niederländer ihren deutschen Nachbarn begegneten, schon in den 60er Jahren aufgegeben und dem deutschen Fachkollegen die Hand zur Versöhnung gereicht. Dies war Rothschuh sehr wichtig und die Voraussetzung für eine in Folge erfreuliche Zusammenarbeit zwischen dem Medisch-Encyclopaedischen Instituut in Amsterdam und dem Institut für Theorie und Geschichte der Medizin in Münster.

In seinem Aufsatz bezeichnet Rothschuh die Medizingeschichte zum ersten Mal als „historische Medizin“. In vielen Gesprächen, die ich mit ihm hatte, war ihm offenbar eingeleuchtet, warum ich seit dem Sommersemester 1976 nicht mehr die Hauptvorlesung, wie die Bestallungsordnung vorsah, als „Geschichte der Medizin im Überblick“ ankündigte, sondern als „Einleitung in die historische Medizin“. Ich war und bin der Überzeugung, daß „Geschichte der Medizin“ die falsche Bezeichnung für unsere Lehraufgabe ist. Wir sollen nicht Historiker, sondern Ärzte ausbilden, und bei Medizinstudenten entsteht leicht die falsche – wenn auch angesichts ihres überladenen Stundenplans verständliche – Assoziation, die Geschichte der Medizin sei eine interessante - vielleicht spannende, aber nicht notwendige – Vorlesung, ein Luxus, wenn man ihn sich leisten kann. Doch wie das Studium der Grundlagen der theoretischen Medizin die notwendige Bedingung für das Studium der klinischen Medizin ist, ist das Studium der Grundlagen der historischen Medizin ebenso, ja mehr, die notwendige Bedingung für das Studium der klinischen Medizin, vorausgesetzt das Ziel des Medizinstudiums ist nicht der medizinische Experte, der Funktionär im Dienstleistungsgroßbetrieb Gesundheitswesen, sondern der Arzt. Wie soll ein junger Arzt wissen, was er ist, wenn er die uralte Geschichte des Arztes nicht kennt? Wer sagen, wer sich und anderen erklären will, wer er ist, muß eine Geschichte erzählen, seine Geschichte, seine Biographie erzählen. Anders kann er seine Identität begreifen und darstellen. Wie soll ein junger Arzt sich zu den Traditionen verhalten, in denen er steht, und in der Medizin gibt es viele mächtige Traditionen, denen er schlicht weg ausgeliefert ist, wenn er sie nicht kennt? Wie soll ein junger Arzt sich zu sich selbst, zu seinem Beruf, zu seiner Aufgabe, zu seiner sozialen Umwelt und ihren Strukturen verhalten, Distanz gewinnen, sich kritisch auseinandersetzen können, wenn er nicht weiß, daß alles, was ist, geworden ist, Produkt der Geschichte ist und er nie darüber nachgedacht hat, warum und wie das Gewordene, Gegenwärtige geworden ist? Wie soll ein junger Arzt sich in der mittlerweile unübersehbaren Vielfalt der Gegenstände, Fächer, Disziplinen, Forschungsrichtungen und Methoden der Medizin orientieren, wenn er nicht gelernt hat zu sehen, wie die scheinbar unverbundene, isolierte, widersprüchliche Vielfältigkeit der Medizin sich in ihren historischen Wurzeln vereinigt? Wer übt den jungen Arzt, der täglich nicht in mono-kausalen, sondern als Arzt in Bedingungszusammenhängen, konditional, in genetischen Zusammenhängen denken muß, in physiogenetischen, onkogenetischen, pathogenetischen, somato- und psychogenetischen Kategorien denkt, in dieses Denken, das historische Denken ein? Nur die Beschäftigung mit und die Kenntnis der historischen Medizin, in der er täglich lebt. Wie soll er seine Patienten, ohne dessen Geschichte, die diesen prägt, verstehen, ohne von dessen historisch-sozialer, -kultureller und neutraler Verfassung zu wissen? Wie eine Frau erst durch ihr Kind zur Mutter wird, wird der Arzt Arzt nur durch den Patienten. Deshalb ist nicht nur der Arzt, seine Wissenschaft, seine Kunst, sondern auch der Patient mit seinen Erwartungen, Hoffnungen, Bedürfnissen und Befindlichkeiten Teil der historischen Medizin. Kurzum: die Identifikations- und kritische Funktion, die Integrations- und Orientierungsfunktion, sowie das Einüben des Denkens in genetischen und Bedingungszusammenhängen ist die vornehmste Aufgabe des Unterrichts in historischer Medizin.

Karl Eduard Rothschuhs Name ist weltweit zu einem Begriff geworden für zuverlässige, solide Arbeit, klare Diktion, nüchternes Urteil, systematische Kraft und zugleich für neue, faszinierende Fragestellungen und Methoden, für richtungweisende, aber ganz unpretentiös vorgetragene theoretische und historische Einsichten. So auch in seiner Schrift über die historische Medizin. Zunächst fragt er: Medicina Historica: Quid? Während „Geschichte der Medizin“ ein mehrdeutiger Begriff ist – die Vergangenheit der Medizin als Gegenstand, als Gegenstand der Historiographie, als Fachbezeichnung – bei dem jedoch immer der Akzent auf Geschichte liegt, ist „in einer Vorlesung über historische Medizin von der Medizin selbst als Objekt die Rede“. Von der gegenwärtigen Medizin. Die Medizingeschichte klammert die aktuelle Medizin aus. „Das ist nach meiner Auffassung“, sagt Rothschuh, „nicht gut. Ich halte es für besser, von der gegenwärtigen Medizin ausgehend die Vergangenheit der Medizin zu befragen, wie sie war, wie und wodurch sie sich wandelte und was das Vergangene zum Gegenwärtigen beigetragen hat. Das ist mehr als dem heutigen Arzt in der Regel bewusst ist.“ Weil die historische Medizin ein Teil der aktuellen Medizin ist und ihr Studium einen unaufgebaren „Erziehungswert für jüngere Ärzte und Medizinstudierende“ hat, wie Rothschuh sich nicht scheut zu sagen, „gehört“ für ihn „die historische Medizin selbstverständlich in die Medizinische Fakultät.“ Dann kommt Rothschuh unter der Frage Medicina. Quid? zu seiner zentralen Aussage: „Medizin ist so alt wie die Menschheit selbst und verfolgt das Ziel, die Gesunden vor Krankheit zu bewahren und Kranken zur Heilung zu verhelfen. Sie dient einem dringlichen Bedürfnis und erfüllt eine wichtige Aufgabe. Techne und Episteme, Heilbehandlung und ihre Begründung aus Erfahrung und Denken, sind unlösbar mit den Absichten der Medizin verbunden. Jedes Tätigwerden in der Medizin muß also letztlich der ärztlichen Aufgabe dienen. Medizin ist, wie gesagt, tätiges Handeln und keine Wissenschaft.“ Und weiter: „Das große Gewicht, welches zugestandenermaßen den Naturwissenschaften für die Erfüllung der ärztlichen Aufgaben zukommt, besagt keineswegs, daß die Medizin selbst eine Naturwissenschaft sei. Sie ist weder eine Naturwissenschaft noch eine Geisteswissenschaft. Sie ist überhaupt keine Wissenschaft, sondern bedient sich ihrer.“ Die historische Medizin ist so als Teil der Medizin, nicht nur für das Studium der Medizin, sondern auch als Forschung unverzichtbar, denn sie trägt „zum Denken, zur historischen Reflexion und damit zum Selbstverständnis der Medizin“ bei. Sie „entwickelt und vertritt Werte, die ohne die Medicina Historica nirgendwo in die Medizin eingebracht würden.“

Daß die Medizin einem „vorwissenschaftlichen Imperativ“ folgt, wie ich das genannt habe, der allein ihre Einheit stiftet, weil er die Zugehörigkeit der einzelnen Wissenschaften und Disziplinen zur Medizin als einer praktischen, als einer Handlungswissenschaft bestimmt, diese Einsicht Rothschuhs, so mühsam sie für ihn selbst, den Physiologen, zu erringen war, hat Schule gemacht.

Alle seine wissenschaftlichen Enkel sind von dieser Grundeinsicht Rothschuhs geprägt und haben sie auf ihren je eigenen Forschungsfeldern fruchtbar gemacht: Wolfgang Eckart, Peter Hucklenbroich, Urban Wiesing, Michael Stolberg, Thomas Rütten, Peter Kröner und der eben plötzlich, viel zu früh verstorbene Jochen Schwanitz. Die fruchtbare Verbindung von wissenschaftshistorischer mit wissenschaftstheoretischer Forschung, bei der die historische Medizin ihre zugleich kritische und integrierende Funktion wahrnimmt hinsichtlich der Klarstellung und Lösung der Probleme der modernen Medizin, das ist das Charakteristikum des Institutes, das Karl Eduard Rothschuh 1960 gegründet und mit seinem Geist erfüllt hat. Seine ganz undramatische und unhektische, stetige und intensive Arbeitsweise haben eine fruchtbare und harmonische Arbeitsatmosphäre geschaffen, die noch jeder der vielen Besucher des Instituts gespürt und jeder seiner Mitarbeiter dankbar zu rühmen gewusst hat. Am 3. September 1984 im Alter von 76 Jahren ist Karl Eduard Rothschuh gestorben. Der Tod hat ihm an seinem Schreibtisch in seinem Institut die Feder aus der Hand genommen, mit der er einem Rat suchenden Doktoranden antworten wollte. Bis in die letzten Minuten seines Lebens konnte er so, wie er sich wohl gewünscht haben mag, im Dienst der Wissenschaft arbeiten.

Zu sagen freilich, sein Leben sei ganz im Dienst der Wissenschaft aufgegangen, wäre eine unbillige Verkürzung. Es bliebe zu Vieles verborgen, was zu den bewundernswerten und liebenswürdigen Zügen im Bilde seiner Persönlichkeit gehört: Seine Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude, sein treffender, aber nie verletzender Humor, seine hohe musikalische Begabung, sein Flötenspiel müssen wenigstens erwähnt werden wie seine tief eingewurzelte Liebe zur Natur, die ihn zu einem unermüdlichen Gärtner und hingebungsvollen Beobachter und Kenner der heimischen Vogelwelt machten. Wer schließlich vermag von außen zu vermessen, welchen Anteil die Lebensgefährtin durch Verständnis und Mitarbeit an der Leistung dieses Mannes hatte? Karl Eduard und Rosemarie Rothschuh führten eine Ehe, wie sie für die Generation meiner Eltern und Lehrer noch ganz selbstverständlich war: die Frau ganz im Dienst von Mann und Familie. Man kann es auch das Prinzip herrschen durch dienen nennen. Bei Rothschuhs Autofahrten sah das so aus: Er, selbstverständlich am Steuer, sie, die Straßenkarte auf den Knien, saß neben ihm und sagte, wo es langgeht.

Meine Damen und Herren, ich bin Frau Schöne-Seifert dankbar, daß sie auf Anregung von Eduard Seidler, der sich immer als ein Rothschuh-Schüler betrachtet hat, diese Karl-Eduard-Rothschuh-Gedächtnis-Vorlesung gegründet und mir die Ehre zugedacht hat, heute an seinem 96. Geburtstag an meinen Lehrer zu erinnern.

Es ist die schönste Aufgabe des Historikers und seine wichtigste: Erinnerung zu stiften. Das unwiderruflich Vergangene durch seine Arbeit in Erinnerung zu rufen, des Gewesenen zu gedenken, lebendige Gegenwart des Vergangenen zu schaffen, erinnerte Vergangenheit zu erfahrender Gegenwart zu machen und damit Zukunft zu eröffnen. Für diese Zukunft wünsche ich Frau Schöne-Seifert und dem Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Universität Münster, daß Karl Eduard Rothschuhs guter Geist in seinem Institut, dessen Erweiterung ihn gefreut hätte, erhalten bleibe und sein Name nicht vergessen werde.