Am Dienstag, dem 26. Mai
1789, also exakt vor 215 Jahren und 6 Wochen hielt Schiller in Jena seine
Antrittsvorlesung als Professor für Geschichte. Am 21. Mai hatte er das
Ereignis noch lateinisch den Illustrissimis Generosissimis ac Nobilissimis
Commillitonibus angekündigt ohne sein Thema zu nennen. Der Titel seiner
Vorlesung, die er auf zwei Kollegstunden verteilte – damals nahm man sich
noch die Zeit – „Was heißt und zu welchem Ende studirt man
Universalgeschichte?“ hat Schule gemacht. Ungezählte Hochschullehrer sind
bis heute seiner Formulierung gefolgt, wenn sie ihr Fachgebiet und dessen
Nutzen bei Antritts-Abschieds- oder sonstigen Vorlesungen vorstellen
wollten. So auch ich, ganz im Sinne von Karl Eduard Rothschuh.
Völlig traditionell verspricht Schiller seinen hochgeschätzten Zuhörern, die
in großer Zahl gekommen waren, „vortreffliche junge Männer, die eine edle
Wißbegierde um mich her versammelt, und in deren Mitte schon manches
wirksame Genie für das kommende Zeitalter aufblüht“, so schmeichelt er
ihnen, diesen hochwürdigen Herren verspricht er beim Durchwandern des
„großen weiten Feldes der allgemeinen Geschichte“, Belehrung, Vorbilder,
Erkenntnis- und Lustgewinn; in seinen Worten: „dem denkenden Betrachter so
viele Gegenstände des Unterrichts, dem thätigen Weltmann so herrliche Muster
zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse und Jedem ohne
Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens.“ Schiller lebt noch
gesichert im Haus einer Historia, die nach Ciceros Dictum Vitae magistra
ist. Ganz unbefangen kann er, als Kind der Aufklärung, die Beschäftigung mit
Geschichte durch ihren Nutzen rechtfertigen. Alle Wissenschaft wird allein
zu Nutz und Frommen betrieben, rechtfertigt sich durch ihre Utilitas. Doch
Belehrung, Vorbild, Erkenntnis- und Lustgewinn allein genügen Schiller
nicht, um darzulegen, zu welchem Ende, warum man Geschichte studieren soll.
Es geht um mehr, es geht um Höheres, es geht um die Perfektibilität des
Menschen, es geht um die Vervollkommnung der Menschheit. Von nichts waren
die Menschen im Zeitalter der Aufklärung so überzeugt, von nichts so
durchdrungen, als davon, daß Sinn und Ziel aller Geschichte des Menschen die
seiner Vervollkommnung sei. Freilich, nicht der durch genetische,
pharmakologische oder chirurgische Manipulation optimierte, durch
leistungssteigernde Gedächtnis- und Aufmerksamkeitspillen vervollkommnete
Mensch, wie in unseren Tagen, sondern die Vervollkommnung der Menschlichkeit
durch Überlieferung, Bewahrung und Vermehrung des „reichen Vermächtnißes von
Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit“. Diesem Ziel der Geschichte glaubten
sie sich nah. So ist Geschichte für Schiller „eine lange Kette von
Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfang des
Menschengeschlechtes hinauf, die wie Ursache und Wirkung ineinandergreifen.“
Und wenn auch der endliche Verstand des Menschen nie die Geschichte ganz und
vollständig wird überschauen können und die Überlieferung bruchstückhaft
ist, so ist „die kleine Summe der Begebenheiten, die nach allen bisher
geschehenen Abzügen zurückbleibt, der Stoff der Geschichte in ihrem
weitesten Verstande.“ Und „aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt
der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige
Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen
wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß haben.“
Die Universalgeschichte gibt Antwort auf die Frage, wie aus dem „alten
Celten“ der „verfeinerte Europäer des achtzehnten Jahrhunderts“, wie der
„ungesellige Höhlenbewohner zum geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann
hinaufstieg.“ Geschichte ist Fortschritt.
„Je öfter und mit je glücklicherem Erfolg“ der philosophische Geist „das
Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen vermag, desto mehr wird er
geneigt, was er als Ursache und Wirkung ineinander greifen sieht, als Mittel
und Absicht zu verbinden.“ Schließlich „bringt er einen vernünftigen Zweck
in dem Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte.“
Und wenn das Ziel der Weltgeschichte auch weit über die Gegenwart
hinausführt, so ist sich Schiller doch sicher: „Unser menschliches
Jahrhundert herbey zu führen haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen
– alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche
Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich
heimgebracht haben.“
In seinem genialen, mitreißend formulierten Programm zeigt Schiller sich
ganz auf der Höhe der Aufklärungshistorie. Sein Begriff von Geschichte ist
schon ein Kollektivsingular, „eine Geschichte über den Geschichten“
(Droysen), ein empirischer Erfahrungsraum, in dem sich das Gewesene
erforschen, auf den Begriff bringen und für unsere Gegenwart fruchtbar
machen läßt. Freilich, diese Geschichte ist die Geschichte der
Vervollkommnung der Menschheit, allein die Geschichte des Menschen, die von
dem rohen, ungeschlachten Wesen der grauen Vorzeit zu „dem verfeinerten
Europäer des achtzehnten Jahrhunderts“ führt. Und diese Geschichte lehrt,
wie die barbarische „Freyheit des Raubthiers“ der „edlen Freyheit des
Menschen“, wie der egoistische erbarmungslose Kampf um Macht und Herrschaft
dem Frieden weicht… „Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine
große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber
nicht mehr zerfleischen.“ Der Zustand der „bürgerlichen Gesellschaft“ in
Europa nähert sich der Vollkommenheit. Dies lehrt die Geschichte und jedes
Glied in der Kette der Menschengeschlechter ist bestimmt, „zu dem reichen
Vermächtniß von Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit, das wir von der Vorwelt
überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen“, auch
aus seinen Mitteln einen Beitrag zu leisten. Damit ist jedem „eine Bahn zur
Unsterblichkeit aufgethan, zu der wahren Unsterblichkeit meyne ich, wo die
That lebt und weiter eilt, wenn auch der Name ihres Urhebers hinter ihr
Zurückbleiben sollte.“ Der letzte Satz der Vorlesung. Welch hinreißender
Pathos!
Wie unsicher das historische Urteil sein kann, die Geschichte den
Geschichtsschreiber überholt und ins Unrecht setzt, musste Schiller freilich
selbst erfahren. Er hielt seine Vorlesung am Vorabend der französischen
Revolution. Als er die Rede drei Jahre später neu herausgibt, bleibt der
Text völlig unverändert, bis auf zwei kleine Wörter. Der Westfälische Friede
zu Münster begründet den „neuen allgemeinen Frieden“ nicht mehr auf „ewig“
sondern nur noch auf „Jahrhunderte“. Und die Zuversicht, die Hausgenossen
der europäischen Staatenfamilie könnten sich nicht mehr zerfleischen, wird
nun durch ein skeptisches „hoffentlich“ eingeschränkt. Es ist eben, wie
Schiller ja selbst angemerkt hatte, „zwischen dem Gange der Welt und dem
Gange der Weltgeschichte ein merkliches Missverhältnis“. Auch den bitteren
Unterschied von apostrophiertem Studenten-Ideal und erlebter Wirklichkeit
eines frustrierten Hochschullehrers musste er kennen lernen. Die gleich
zweimal sofort im Druck erschienene Antrittsvorlesung schickt er an Freund
Körner mit der Bitte um Kritik: „So wie Du sie lesen wirst, habe ich sie
freilich nicht gehalten. Ich glaubte dem Publicum etwas mehr Ausgearbeitetes
schuldig zu sein als einem Haufen unreifer Studenten.“ Mit dem bald
einsetzenden Hörerschwund schwand auch seine Lust an den Vorlesungen. Schon
nach vier Jahren stellte er sie endgültig ein und kündigte sie nur noch an:
„si per valetudinem licuerit“, und die Gesundheit erlaubte es eben nicht
mehr.
Dennoch: Blaß werden könnte man vor Neid, wenn man sich vergegenwärtigt, wie
selbstverständlich die Menschen in Alteuropa, auch noch im aufgeklärten
Jahrhundert, in ihrer Geschichte lebten, sich ihrer Geschichte
vergewisserten, ihr bei allem kritischen Ressentiment mit Respekt
begegneten, die Tradition auf ihre Beglaubigung hin prüften, sie aber weder
pauschal verwarfen, noch sich der Überlieferung einfach unterwarfen. Wir,
die wir das Scheitern idealistischer und marxistischer
Geschichtsphilosophien, den Historismus und Neopositivismus hinter uns haben
und verstört den Propheten der Postmoderne lauschen, die uns verkünden, daß
„die große Erzählung ihre Glaubwürdigkeit verloren“ hat, ja selbst „die
Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung für den Großteil der Menschen schon
verloren ist“ (Lyotard), wir begegnen unserer sinnlos gewordenen, ihrer
Einheit und ihrer Ziele beraubten Geschichte unsicher und orientierungslos,
wagen „das Argument der Geschichte“ (Gall), wenn überhaupt, nur zaghaft zu
gebrauchen, und obwohl doch auch wir nur in und durch Geschichte leben,
spielen wir trostlose Sprachspiele.
Karl Eduard Rothschuh hat den Tanz der Intellektuellen um das goldene Kalb,
das da heißt „Ende der Geschichte“ mit milder Verachtung wahrgenommen. Seine
Sache war das nicht. Seine Sache, die Sache seines äußerlich durch viele
Metamorphosen gehenden Berufsweges, seines innerlich ganz folgerichtigen
Lebensweges ist immer „das starke sachliche Interesse an dem Phänomen
Wissenschaft als solchem“ gewesen, wie er bekennt. Sein nüchterner Sinn,
seine Skepsis gegen Überschwang und Pathos, sein ausgeprägtes Gefühl für
menschlichen Anstand haben ihn in der Hochburg der nationalsozialistischen
Ärzteschaft Alt-Rehse, in Krieg- und Nachkriegszeit, bei der
Studentenrevolte von 1968 und in den Wirren der Hochschul- und
Studienreformen geschützt vor den Versuchungen wechselnder Ideologien. Heute
vor 96 Jahren, am 6. Juli 1908 ist er in Aachen geboren und das Motiv seines
Lebens hieß: Studium der Wissenschaft.
Das Studium beginnt Karl Eduard Rothschuh als Knabe mit zwölf Jahren. Das
erste uns überlieferte Werk heißt „Studium der Vogelstimmen“. Es ist in
sauberer Handschrift geschrieben, mit Titelvignette und Vorwort versehen und
enthält den Versuch, die Vogellaute ohne Noten zu notieren, 1921 begonnen,
1932 beendet. Im Leben des hoffnungsvollen Jünglings nahm der Aachener
Stadtwald offenbar breiteren Raum ein als die Schule. Daher fanden die
fromme Mutter und der als Schiffsarzt weltbefahrene und als Farmarzt in
Nicaragua welterfahrene Vater, der Junge sei in der Landwirtschaft besser
aufgehoben. So verließ Karl Eduard 1924 das Humanistische Gymnasium seiner
Vaterstadt und tat als Landwirtschaftseleve im Münsterland auf einem großen
Bauernhof Dienst, sammelte seine ersten Lebenserfahrungen, verspürte bald
das Bedürfnis, die Praxis durch Theorie zu fundieren. Nach dem Studium der
Landwirtschaft, das er 1929 in Bonn-Poppelsdorf mit dem Examen für
praktische Landwirte abschließt, gewinnt der Wunsch, weiter zu studieren,
Arzt zu werden, die Oberhand. Karl Eduard Rothschuh holt binnen Jahresfrist
das Abitur nach und nimmt im Wintersemester 1930/31 in Hamburg das Studium
der Medizin auf, das er dann in München, Frankfurt am Main und Wien
fortsetzt und in Berlin 1936 mit dem Staatsexamen abschließt.
Rothschuhs Weg zur Medizingeschichte war noch lang und er führte, was wir
keinesfalls übersehen dürfen, wenn wir seine Auffassung von der Geschichte
und ihrer Funktion für das Studium der Medizin verstehen wollen, über seine
Leidenschaft zur Theorie, zur Theorie der Medizin, deren Lage ihm verworren
schien. Während eine unaufhaltsam spezialisierende medizinische Wissenschaft
und Technik immer neue Triumphe feierte, wuchs das Unbehagen in und an einer
Medizin, die über Einzelgegenständen ihren Gegenstand, über Detailproblemen
ihre Aufgabe aus dem Blick zu verlieren drohte und sich eigentümlich hilflos
gegenüber den Leiden des in seiner sozialen Umwelt und durch die
technisch-industrielle Zivilisation gefährdeten und gestörten Menschen
erwies.
Längst schien auch ein – wenigstens in seinen Grundzügen – einheitliches und
verbindliches Berufsbild des Arztes verloren. Zwischen den Extremen einer
technisch-rationalen Konzeption vom Arzt als Dienstleister, als dem auf eng
begrenztem Gebiet fachkompetenten Funktionär im Dienstleistungsgroßbetrieb
Gesundheitswesen und der unter vielen Erscheinungsformen verborgenen
irrationalen Sehnsucht nach dem alle Lebensprobleme lösenden Magier
schwankte das Bild des zukünftigen Arztes.
Gunter Mann hat in seinem unvergeßlichen Gedenkvortrag auf der Akademischen
Trauerfeier für Karl Eduard Rothschuh eindringlich die Begegnung zwischen
dem suchenden Studenten Rothschuh und dem ihm den Weg weisenden Lehrer
Richard Koch im Schicksalswinter 1932/33 geschildert und in ihrer Bedeutung
beschrieben. In der öffentlichen Diskussion um die moderne Medizin waren
damals schon – was wir heute so leicht vergessen – Schlagworte wie
Alternative Medizin, Ganzheitsmedizin, Biologische Medizin im Schwange. Sie
waren Ausdruck – damals wie heute – eines eher unbestimmten doch starken
Unbehagens am Zustand einer wissenschaftlichen Medizin, die sich immer mehr
in Disziplinen zersplitterte, auf immer engere Bereiche spezialisierte und
unentwegt in immer begrenzterer Detailforschung ihrem im 19. Jahrhundert
formulierten Ziel nachjagte, den Menschen auf Struktur und Funktion, auf
Physiologie zu reduzieren und diese „in die Physik und Chemie der
Lebensvorgänge aufzulösen“, wie Rothschuh später formulierte. Auf diesem
Wege schien die wissenschaftliche Medizin die Lebensvorgänge selbst, deren
Sinnhaftigkeit und Gebundenheit an Organe und Organsysteme, die Ganzheit des
Menschen, die Einheit seiner Person, die Ganzheit seiner Lebenszusammenhänge
mehr und mehr mit deletären Folgen für ihre Praxis aus dem Blick zu
verlieren.
Der junge, auf Umwegen zum Studium der Medizin gelangte und dabei gereifte
Student Rothschuh teilte dieses Unbehagen. Unzufrieden mit dem bisher im
Studium Gelernten und Erfahrenen strebte er ungeduldig im Chaos des Wissens
nach Zusammenhang, Übersicht, einsichtstiftender Ordnung. Den Entwurf einer
theoretischen Biologie in der Tasche suchte er Verständnis, Belehrung und
Wegweisung bei dem jüdischen Arzt und Gelehrten in Frankfurt, der sich mit
Arbeiten über philosophische, erkenntnistheoretische und methodologische
Fragen der Medizin einen Namen gemacht hatte. „Richard Koch und Karl Eduard
Rothschuh begegnen sich an bestimmten Schnittpunkten ihres Denkens. Sie
strebten einer Lebenstheorie zu, die den Menschen an sich, den Organismus in
seinen bestimmenden Kräften und Strukturen sucht, um damit ärztlicher Kunst
und Therapie vor allem hilfreich zu werden und neue Tore zu öffnen“. So
beschreibt Gunter Mann die Begegnungssituation und das zentrale Anliegen der
beiden ungleichen Männer.
Eine erste Frucht dieser Begegnung war ein Aufsatz, den der Student
Rothschuh 1935 in der „Klinischen Wochenschrift“ veröffentlichte. „Wir leben
in einer Zeit, deren Fragestellungen nicht mit der Darstellung von
einzel-wissenschaftlichen Ergebnissen beantwortet werden können. Die Medizin
bedarf über ihre speziellen Ergebnisse hinaus einer allgemeinen Theorie,
welche dem Arzte Antwort auf seine Fragen und Ruhe in seinem Handeln zu
geben vermag“. So beantwortete und begründete Karl Eduard Rothschuh die
selbstgestellte Frage: „Brauchen wir in der Medizin Theorie?“ und
postulierte energisch die Notwendigkeit „einer theoretischen Prüfung“ sowohl
der Denkvoraussetzungen in der medizinischen Wissenschaft“, als auch ihrer
„Wertsetzungen“. Denn: „das ärztliche Berufsethos, seit Jahrtausenden im Eid
des Hippokrates verkörpert, bedarf heute einer neuen Betrachtung, da die
Stellung des Arztes als Sachwalter der Gemeinschaft in der Zukunft in harte
Konflikte mit seiner alt überlieferten Stellung als Sachwalter des
individuellen Wohlergehens geraten muß.“ Vor dem Hintergrund des Dritten
Reiches, in dem er geschrieben wurde, ist dies ein ebenso nüchterner wie
ahnungsvoller Satz.
In dem bis zu Kochs erzwungener Emigration nach Rußland fortgeführten
Gedankenaustausch zwischen Lehrer und Schüler um eine Theorie des
Lebendigen, die die Lebensphänomene unverkürzt, adäquat, widerspruchsfrei
und konsistent abbildet, gewinnt notwendigerweise der Begriff des Organismus
und seiner Ganzheit die größte Bedeutung. Rothschuh hatte das Grund- und
Leitthema seines wissenschaftlichen Lebens – und das war sein ganzes Leben –
gefunden, an dem er zäh und konsequent auf seinem Weg durch Klinik,
Physiologie und Medizingeschichte festgehalten hat. Dieses Thema ist in der
Tat das Zentralthema der Physiologie und Lebenstheorie Karl Eduard
Rothschuhs gewesen. ‚Ganzheit und Organismus’ war ein Sachverhalt, der ihn
faszinierte, um dessen Klärung er gerungen hat, der immer – direkt oder
indirekt – der Gegenstand seiner Forschung blieb. Das Ergebnis dieser
Forschung, seine Theorie des Organismus (2. Aufl. 1963) hat er für sein
wichtigstes und bestes Buch gehalten. Heute schon ist es ein Gegenstand der
Wissenschaftsgeschichte, Teil ihrer Problem-, Denk- und Ergebnisgeschichte.
Die verhandelte Sache jedoch bleibt in der wissenschaftlichen Diskussion,
wird auf ihren systematischen Gehalt abstrahiert, wird abgelöst von ihren
Ursprüngen und deren historischen Bedingungen, wird als Problem, Argument,
Denkfigur oder Theorie festgeschrieben oder verworfen, modifiziert oder
weitergeführt und beginnt – scheinbar – ein Eigenleben.
Doch die Sache und die
Diskussion um die Sache ist für den Historiker nicht ablösbar von den
Menschen, die die Sache betreiben, nicht ablösbar von den biographischen,
d.h. kulturellen, politischen, ökonomischen, sozialen Bedingungen der
Menschen, die um die Sache streiten, nicht ablösbar von ihren Hoffnungen und
Erwartungen, von ihren Befürchtungen und Enttäuschungen, von ihren Vorlieben
und Abneigungen, von ihren Eitelkeiten und Sehnsüchten. Das Credo der
neuzeitlichen Wissenschaft, daß der Mensch als Subjekt ganz hinter der Sache
zurücktreten müsse, daß der Denker hinter dem Gedachten, der Beobachter
hinter dem Beobachteten, der Experimentator hinter dem Experiment, der
Ausleger hinter der Interpretation, der Erfinder hinter der Erfindung, der
Theoretiker hinter der Theorie zurücktreten müsse und könne, so daß der
Autor bestenfalls als Name zur Kennzeichnung der Sache, als Eponym, erhalten
bleiben könne, dieses Credo muß der Historiker als Illusion entlarven.
Die Reduktion von Wissenschaft auf reine Rationalität, die systematische und
methodische Elimination der Subjekte aus der Wissenschaft hat den schönen,
aber höchst gefährlichen Schein erzeugt, Wissenschaft sei eine Veranstaltung
des reinen Geistes, geleitet von der Suche nach Wahrheit, nur der Wahrheit
verpflichtet, sich der Wahrheit im unendlichen Erkenntnisfortschritt
annähernd. Und da nach der klassischen Transzendentalienlehre das Wahre,
zugleich das Ganze, das Eine, das Schöne und vor allem auch das Gute ist,
erschien eine dem reinen objektiven Erkenntnisfortschritt, der Wahrheit
verpflichtete Wissenschaft per se als gut. Wissenschaft an sich, wenn sie in
ihren Grenzen und bei ihrem Geschäft blieb, konnte nicht anders als gut sein
und bedurfte keiner Rechtfertigung. Nur ihr falscher, verwerflicher,
verderblicher oder gar verbrecherischer Gebrauch war böse. Doch der
Mißbrauch blieb der Verantwortung des nur seiner Wissenschaft verpflichteten
Wissenschaftlers entzogen. Karl Eduard Rothschuh gehörte noch zu einer
Generation von Wissenschaftlern, die sich dieser – bona fide - vollzogenen
Selbststilisierung der Wissenschaft letztlich nicht zu entziehen vermochten.
Trotz aller Skepsis und wachsender Zweifel war und blieb er Scientist und
bekannte sich dazu.
Es war eine richtige und wichtige Klarstellung in der ansonsten als
Interpretationsmodell der Wissenschaftsgeschichte höchst fragwürdigen
Paradigmenlehre Thomas Kuhns, daß Wissenschaft nicht eine Veranstaltung der
reinen Vernunft und ihr Fortschritt nicht der kontinuierliche Zuwachs an
rationalem Erkenntnisgewinn ist, sondern daß Wissenschaft, auch in ihren
Ergebnissen, an die historischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis
gebunden bleibt, d.h. von den zeitgebundenen Bedingungen, in denen der
agierende Wissenschaftler denkt und lebt. Dafür liefert Rothschuh selbst
einen Beleg. Im Schlußwort zu seinen Prinzipien der Medizin
verteidigt er die Abstraktheit seiner „Prinzipien“ als „Grammatik für die
Medizin“ und schließt mit den Sätzen, die seine Geschichte beschreiben:
„Zur Rechtfertigung der ‚Prinzipien’ sei gesagt, daß der Autor seit seinen
Studienzeiten etwas gleichartiges in der Medizin vergeblich gesucht hat. Die
ältere Medizin besaß ein durchdachtes Konzept ihres Selbstverständnisses,
die jüngere Medizin verlor das Interesse daran, aus mancherlei Gründen. Die
‚Prinzipien’ sind auf dem Wege vom naturbeobachtenden Schüler, über den
reflektierenden Studenten, den praktizierenden Arzt, den experimentierenden
Physiologen zum Methodologen der Medizin und nach und nach zur jetzigen
Gestalt herangereift.“ Der Medizinhistoriker kommt nicht vor; er ist Teil
der Methodologen.
Mit anderen Worten: die Mitteilung des Ergebnisses einer wissenschaftlichen
Bemühung genügt nicht. Ihr Anlaß (Mangel), ihr Zweck (durchdachtes Konzept
des Selbstverständnisses der Medizin), ihr Ziel (Vollkommenheit) müssen dazu
angegeben und das Ergebnis will als Produkt einer Geschichte, einer
Biographie, verstanden werden. Das heißt wiederum nichts anderes, als daß
wir das Verständnis eines wissenschaftlichen Ergebnisses – und sei es so
abstrakt, wie es wolle – verfehlen, wenn wir nicht z.B. die Intention des
Denkers oder die Funktion des Nachdenkens und die Absicht des Gedachten in
ihrem historischen Kontext ernstnehmen. Je höher die Abstraktion, um so
schwerer ist es gewiß, sie in ihren historischen Bedingungen zu erkennen,
weshalb sich so viele Systematiker außerhalb der Geschichte wähnen, doch
keine Abstraktion führt aus der Geschichte hinaus. Sie aber ist die einzige
Wirklichkeit, die wir haben und erkennen können. Ein
wissenschaftshistorisches Phänomen will also in den historischen Bedingungen
seiner Möglichkeit erkannt sein, ehe es ganz und richtig erkannt ist.
Man verfehlt das Verständnis von Rothschuhs Theorie des Organismus
und seiner Prinzipien der Medizin, wenn man deren Motivation,
Funktion und Intention nicht in Rechnung stellt. Der Theoretiker Rothschuh
war seinem Selbstverständnis nach Arzt, d.h. ein Mann, der auf Handeln und
praktische Bewährung aus ist. Sein Lieblingssatz: „Nichts ist praktischer
als eine gute Theorie“ weist ihn als Mann aus, der eine „Grammatik für die
Medizin“ erarbeitet, nicht, weil er die Grammatik als Selbstzweck liebt, als
Lehre von der Struktur, Ordnung und Regelhaftigkeit der Sprache, sondern
weil sie Mittel zum richtigen Gebrauch, zur Beherrschung der Sprache ist.
Erst wer die Prinzipien der Medizin kennt, beherrscht die Medizin als
Praxis. Er hoffte auf diese Einsicht; daß er für sie so wenig Resonanz fand,
hat ihn tief enttäuscht.
Auf den Inhalt der „Theorie des Organismus“ kann ich hier nicht eingehen,
doch wenn wir auf die Absichten dieses Werkes achten, nähern wir uns der
Vorstellung, die Karl Eduard Rothschuh sich von Begriff und Funktion der
Geschichte gemacht hat.
Es lassen sich drei Absichten benennen: Befreiung, Synthese und Gewinn, die
– wie man sofort sieht – auf völlig verschiedenen Ebenen liegen.
1. Rothschuh will die Physiologie als „Lehre vom Organismus und der Natur
des Menschen“ von den historischen „Präokkupationen“ durch Philosophie und
Theologie befreien, die Probleme aus ihrer „weltanschaulichen Besetzung“
lösen und durch „richtigere Vorstellungen aus den Ergebnissen der
Erfahrenswissenschaften“ ersetzen, das „wissenschaftliche Menschenbild“
gegen das philosophische und theologische abgrenzen.
2. Rothschuh will gegen die Zersplitterung einer „analytischen
Detailforschung“, die „die Berührung mit den allgemeinen Grundproblemen mehr
und mehr verliert“, eine „Synthese“ setzen, die „Bios“, „Psyche“ und
„Pathos“ als „einen einheitlichen Komplex von fest zusammenhängenden
Sachverhalten behandelt“, der „nur als Ganzes widerspruchslos auf ein
adäquat strukturiertes Gedankenmodell übertragen“ werden kann. Eine solche
Synthese ist zugleich die Wiedergewinnung einer alten „Aufgabe der
Physiologie, im Universitätsunterricht ein Bild des Menschen in der Medizin
zu entwickeln.
3. Rothschuh verspricht sich von seiner Synthese einen dreifachen Gewinn:
a) Den allgemeinsten Gewinn der ‚Theorie des Organismus’ sehe ich in der
Möglichkeit, eine Fülle von Detailwissen sinnvoll einordnen zu können. Das
bedeutet mehr Übersicht, straffere Logik, größere Klarheit, bessere
Verfügbarkeit und neue Fragestellungen.
b) Einen besonderen Gewinn für die Medizin sehe ich darin, daß sie sowohl
eine biotechnisch-kausale Medizin zu rechtfertigen wie eine richtig
verstandene biologische Medizin zu begründen gestattet.
c) Die
Rechtfertigung kausal-analytischer Forschung, der er selbst in der
Physiologie einen Großteil seiner Lebensarbeit gewidmet hat, ist ihm
wichtig, doch deren Ergebnisse ergeben noch keine Physiologie als Lehre von
der Natur des Menschen:
„Die Physiologie bedient sich zwar physikalischer und chemischer Methoden,
doch ist ihr Gegenstand mit den Begriffen der Physik und Chemie nie
vollständig zu beschreiben, außer unter Vernachlässigung der fundamental
anderen Art seiner ‚Organisation’ zum Vollzug von ‚Leistungen’. Zum
Verständnis des Lebendigen brauchen wir eben Kausalbegriff und
Organisationsbegriffe nebeneinander. Das ist kein Rückfall in Vitalismus,
sondern ein Fortschreiten zu einer neuen Art der szientifizierenden
Behandlung des Gegenstandes der Biologie und Medizin, der sich dabei eine
Fülle bisher schwer begreiflicher Phänomene erschließen.“
Die Erschließung und das
Verständnis neuer Phänomene, darin liegt der dritte Gewinn einer
Theorie des Organismus.
Die so skizzierten
Absichten des Autors, seine Zwecke und Ziele, wären nun nicht nur auf ihren
historischen Kontext, d.h. auf seine Biographie und seine Zeit hin zu
befragen, es wäre auch zu prüfen, wieweit das Mittel, und die Theorie des
Organismus ist erklärterweise ein Mittel, von seinen Zwecken und deren
historischem Kontext her bedingt und seine Inhalte davon bestimmt wurden.
Beides kann ich hier nicht leisten. Dem ersten Unternehmen hätte Rothschuh
als Historiker der Medizin zweifellos als einer Anlaß- und
Entwicklungsgeschichte der Theorie zugestimmt, das zweite jedoch, die
Prüfung der Theorie und ihrer Inhalte selbst auf ihre historischen
Implikationen, auf die Historizität ihres Gewebes hätte er vermutlich als
illegitim abgewiesen. Hatte er nicht seiner Theorie des Organismus
eigens ein Kapitel vorgeschaltet, indem er die „Methodik der Scientifikation“
entfaltet mit der Absicht, „auf die verschiedenen Betrachtungsweisen
hinzuweisen, mit denen die gesetzliche Struktur der Erfahrungswelt auf ein
isomorphes Aussagemodell übertragen und szientifiziert werden kann“? War es
nicht gerade Aufgabe dieser Methodik, innerhalb „der Grenzen möglicher
Erfahrung“ zu sicheren, intersubjektiv überprüfbaren, gesetzmäßigen Aussagen
über eine „subjektunabhängige reale Welt konstanter Gesetzlichkeit“ zu
kommen? Und gehörte die Geschichte nicht ausdrücklich unter „die
Gegenstände“, die „sich wohl systematisch durchdenken, aber nicht
szientifizieren“ lassen? Nirgends erweist sich Rothschuh so sehr als der
Gefangene seiner eigenen Geschichte als dort, wo er glaubt, auf dem sicheren
und festen Erkenntnisgrund einer „subjektunabhängigen realen Welt konstanter
Gesetzmäßigkeit“ zu stehen.
In dem Aufsatz: Medicina Historica. Zum Selbstverständnis der historischen
Medizin (Janus 1980) hat sich Karl Eduard Rothschuh am Ausführlichsten und
im Zusammenhang über seine Auffassung von Geschichte geäußert, die Summe
seiner historischen Arbeit zusammenfassend, von dem großen Auftakt seiner
„Geschichte der Physiologie“ an, angelegt als „Darstellung der Entwicklung
physiologischen Denkens (1952, 2. Aufl. englisch 1973) über eine dichte
Folge von Arbeiten zu Ursprung und Entwicklung der neuzeitlichen
medizinischen Wissenschaft, über Werden und Wandel ihrer wissenschaftlichen
Modelle, über die Rolle des Forschers und dessen in seiner Zeit wirksamen
Ideen bis hin zu dem großartigen Gesamtbild der „Konzepte der Medizin in
Vergangenheit und Gegenwart“ (1978). Der Aufsatz ist Gerrit Arie Lindeboom
zum 75. Geburtstag „in Dankbarkeit“ gewidmet. Der aufrechte niederländische
Patriot und überzeugungstreue Christ hatte die kühle, nur allzu berechtigte
Distanz, mit der die Niederländer ihren deutschen Nachbarn begegneten, schon
in den 60er Jahren aufgegeben und dem deutschen Fachkollegen die Hand zur
Versöhnung gereicht. Dies war Rothschuh sehr wichtig und die Voraussetzung
für eine in Folge erfreuliche Zusammenarbeit zwischen dem Medisch-Encyclopaedischen Instituut in Amsterdam und dem Institut für
Theorie und Geschichte der Medizin in Münster.
In seinem Aufsatz bezeichnet Rothschuh die Medizingeschichte zum ersten Mal
als „historische Medizin“. In vielen Gesprächen, die ich mit ihm hatte, war
ihm offenbar eingeleuchtet, warum ich seit dem Sommersemester 1976 nicht
mehr die Hauptvorlesung, wie die Bestallungsordnung vorsah, als „Geschichte
der Medizin im Überblick“ ankündigte, sondern als „Einleitung in die
historische Medizin“. Ich war und bin der Überzeugung, daß „Geschichte der
Medizin“ die falsche Bezeichnung für unsere Lehraufgabe ist. Wir sollen
nicht Historiker, sondern Ärzte ausbilden, und bei Medizinstudenten entsteht
leicht die falsche – wenn auch angesichts ihres überladenen Stundenplans
verständliche – Assoziation, die Geschichte der Medizin sei eine
interessante - vielleicht spannende, aber nicht notwendige – Vorlesung, ein
Luxus, wenn man ihn sich leisten kann. Doch wie das Studium der Grundlagen
der theoretischen Medizin die notwendige Bedingung für das Studium der
klinischen Medizin ist, ist das Studium der Grundlagen der historischen
Medizin ebenso, ja mehr, die notwendige Bedingung für das Studium der
klinischen Medizin, vorausgesetzt das Ziel des Medizinstudiums ist nicht der
medizinische Experte, der Funktionär im Dienstleistungsgroßbetrieb
Gesundheitswesen, sondern der Arzt. Wie soll ein junger Arzt wissen, was er
ist, wenn er die uralte Geschichte des Arztes nicht kennt? Wer sagen, wer
sich und anderen erklären will, wer er ist, muß eine Geschichte
erzählen, seine Geschichte, seine Biographie erzählen. Anders kann er
seine Identität begreifen und darstellen. Wie soll ein junger Arzt sich zu
den Traditionen verhalten, in denen er steht, und in der Medizin gibt es
viele mächtige Traditionen, denen er schlicht weg ausgeliefert ist, wenn er
sie nicht kennt? Wie soll ein junger Arzt sich zu sich selbst, zu seinem
Beruf, zu seiner Aufgabe, zu seiner sozialen Umwelt und ihren Strukturen
verhalten, Distanz gewinnen, sich kritisch auseinandersetzen können, wenn er
nicht weiß, daß alles, was ist, geworden ist, Produkt der Geschichte ist und
er nie darüber nachgedacht hat, warum und wie das Gewordene, Gegenwärtige
geworden ist? Wie soll ein junger Arzt sich in der mittlerweile
unübersehbaren Vielfalt der Gegenstände, Fächer, Disziplinen,
Forschungsrichtungen und Methoden der Medizin orientieren, wenn er nicht
gelernt hat zu sehen, wie die scheinbar unverbundene, isolierte,
widersprüchliche Vielfältigkeit der Medizin sich in ihren historischen
Wurzeln vereinigt? Wer übt den jungen Arzt, der täglich nicht in
mono-kausalen, sondern als Arzt in Bedingungszusammenhängen, konditional, in
genetischen Zusammenhängen denken muß, in physiogenetischen, onkogenetischen,
pathogenetischen, somato- und psychogenetischen Kategorien denkt, in dieses
Denken, das historische Denken ein? Nur die Beschäftigung mit und die
Kenntnis der historischen Medizin, in der er täglich lebt. Wie soll er seine
Patienten, ohne dessen Geschichte, die diesen prägt, verstehen, ohne von
dessen historisch-sozialer, -kultureller und neutraler Verfassung zu wissen?
Wie eine Frau erst durch ihr Kind zur Mutter wird, wird der Arzt Arzt nur
durch den Patienten. Deshalb ist nicht nur der Arzt, seine Wissenschaft,
seine Kunst, sondern auch der Patient mit seinen Erwartungen, Hoffnungen,
Bedürfnissen und Befindlichkeiten Teil der historischen Medizin. Kurzum: die
Identifikations- und kritische Funktion, die Integrations- und
Orientierungsfunktion, sowie das Einüben des Denkens in genetischen und
Bedingungszusammenhängen ist die vornehmste Aufgabe des Unterrichts in
historischer Medizin.
Karl Eduard Rothschuhs Name ist weltweit zu einem Begriff geworden für
zuverlässige, solide Arbeit, klare Diktion, nüchternes Urteil, systematische
Kraft und zugleich für neue, faszinierende Fragestellungen und Methoden, für
richtungweisende, aber ganz unpretentiös vorgetragene theoretische und
historische Einsichten. So auch in seiner Schrift über die historische
Medizin. Zunächst fragt er: Medicina Historica: Quid? Während „Geschichte
der Medizin“ ein mehrdeutiger Begriff ist – die Vergangenheit der Medizin
als Gegenstand, als Gegenstand der Historiographie, als Fachbezeichnung –
bei dem jedoch immer der Akzent auf Geschichte liegt, ist „in einer
Vorlesung über historische Medizin von der Medizin selbst als Objekt die
Rede“. Von der gegenwärtigen Medizin. Die Medizingeschichte klammert die
aktuelle Medizin aus. „Das ist nach meiner Auffassung“, sagt Rothschuh,
„nicht gut. Ich halte es für besser, von der gegenwärtigen Medizin ausgehend
die Vergangenheit der Medizin zu befragen, wie sie war, wie und wodurch sie
sich wandelte und was das Vergangene zum Gegenwärtigen beigetragen hat. Das
ist mehr als dem heutigen Arzt in der Regel bewusst ist.“ Weil die
historische Medizin ein Teil der aktuellen Medizin ist und ihr Studium einen
unaufgebaren „Erziehungswert für jüngere Ärzte und Medizinstudierende“ hat,
wie Rothschuh sich nicht scheut zu sagen, „gehört“ für ihn „die historische
Medizin selbstverständlich in die Medizinische Fakultät.“ Dann kommt
Rothschuh unter der Frage Medicina. Quid? zu seiner zentralen Aussage:
„Medizin ist so alt wie die Menschheit selbst und verfolgt das Ziel, die
Gesunden vor Krankheit zu bewahren und Kranken zur Heilung zu verhelfen. Sie
dient einem dringlichen Bedürfnis und erfüllt eine wichtige Aufgabe. Techne
und Episteme, Heilbehandlung und ihre Begründung aus Erfahrung und Denken,
sind unlösbar mit den Absichten der Medizin verbunden. Jedes Tätigwerden in
der Medizin muß also letztlich der ärztlichen Aufgabe dienen. Medizin ist,
wie gesagt, tätiges Handeln und keine Wissenschaft.“ Und weiter: „Das große
Gewicht, welches zugestandenermaßen den Naturwissenschaften für die
Erfüllung der ärztlichen Aufgaben zukommt, besagt keineswegs, daß die
Medizin selbst eine Naturwissenschaft sei. Sie ist weder eine
Naturwissenschaft noch eine Geisteswissenschaft. Sie ist überhaupt keine
Wissenschaft, sondern bedient sich ihrer.“ Die historische Medizin ist so
als Teil der Medizin, nicht nur für das Studium der Medizin, sondern auch
als Forschung unverzichtbar, denn sie trägt „zum Denken, zur historischen
Reflexion und damit zum Selbstverständnis der Medizin“ bei. Sie „entwickelt
und vertritt Werte, die ohne die Medicina Historica nirgendwo in die Medizin
eingebracht würden.“
Daß die Medizin einem „vorwissenschaftlichen Imperativ“ folgt, wie ich das
genannt habe, der allein ihre Einheit stiftet, weil er die Zugehörigkeit der
einzelnen Wissenschaften und Disziplinen zur Medizin als einer praktischen,
als einer Handlungswissenschaft bestimmt, diese Einsicht Rothschuhs, so
mühsam sie für ihn selbst, den Physiologen, zu erringen war, hat Schule
gemacht.
Alle seine wissenschaftlichen Enkel sind von dieser Grundeinsicht Rothschuhs
geprägt und haben sie auf ihren je eigenen Forschungsfeldern fruchtbar
gemacht: Wolfgang Eckart, Peter Hucklenbroich, Urban Wiesing, Michael
Stolberg, Thomas Rütten, Peter Kröner und der eben plötzlich, viel zu früh
verstorbene Jochen Schwanitz. Die fruchtbare Verbindung von
wissenschaftshistorischer mit wissenschaftstheoretischer Forschung, bei der
die historische Medizin ihre zugleich kritische und integrierende Funktion
wahrnimmt hinsichtlich der Klarstellung und Lösung der Probleme der modernen Medizin,
das ist das Charakteristikum des Institutes, das Karl Eduard Rothschuh 1960
gegründet und mit seinem Geist erfüllt hat. Seine ganz undramatische und
unhektische, stetige und intensive Arbeitsweise haben eine fruchtbare und
harmonische Arbeitsatmosphäre geschaffen, die noch jeder der vielen Besucher
des Instituts gespürt und jeder seiner Mitarbeiter dankbar zu rühmen gewusst
hat. Am 3. September 1984 im Alter von 76 Jahren ist Karl Eduard Rothschuh
gestorben. Der Tod hat ihm an seinem Schreibtisch in seinem Institut die
Feder aus der Hand genommen, mit der er einem Rat suchenden Doktoranden
antworten wollte. Bis in die letzten Minuten seines Lebens konnte er so, wie
er sich wohl gewünscht haben mag, im Dienst der Wissenschaft arbeiten.
Zu sagen freilich, sein Leben sei ganz im Dienst der Wissenschaft
aufgegangen, wäre eine unbillige Verkürzung. Es bliebe zu Vieles verborgen,
was zu den bewundernswerten und liebenswürdigen Zügen im Bilde seiner
Persönlichkeit gehört: Seine Hilfsbereitschaft und Einsatzfreude, sein
treffender, aber nie verletzender Humor, seine hohe musikalische Begabung,
sein Flötenspiel müssen wenigstens erwähnt werden wie seine tief
eingewurzelte Liebe zur Natur, die ihn zu einem unermüdlichen Gärtner und
hingebungsvollen Beobachter und Kenner der heimischen Vogelwelt machten. Wer
schließlich vermag von außen zu vermessen, welchen Anteil die
Lebensgefährtin durch Verständnis und Mitarbeit an der Leistung dieses
Mannes hatte? Karl Eduard und Rosemarie Rothschuh führten eine Ehe, wie sie
für die Generation meiner Eltern und Lehrer noch ganz selbstverständlich
war: die Frau ganz im Dienst von Mann und Familie. Man kann es auch das
Prinzip herrschen durch dienen nennen. Bei Rothschuhs Autofahrten sah das so
aus: Er, selbstverständlich am Steuer, sie, die Straßenkarte auf den Knien,
saß neben ihm und sagte, wo es langgeht.
Meine Damen und Herren, ich bin Frau Schöne-Seifert dankbar, daß sie auf
Anregung von Eduard Seidler, der sich immer als ein Rothschuh-Schüler
betrachtet hat, diese Karl-Eduard-Rothschuh-Gedächtnis-Vorlesung gegründet
und mir die Ehre zugedacht hat, heute an seinem 96. Geburtstag an meinen
Lehrer zu erinnern.
Es ist die schönste Aufgabe des Historikers und seine wichtigste: Erinnerung
zu stiften. Das unwiderruflich Vergangene durch seine Arbeit in Erinnerung
zu rufen, des Gewesenen zu gedenken, lebendige Gegenwart des Vergangenen zu
schaffen, erinnerte Vergangenheit zu erfahrender Gegenwart zu machen und
damit Zukunft zu eröffnen. Für diese Zukunft wünsche ich Frau Schöne-Seifert
und dem Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der
Universität Münster, daß Karl Eduard Rothschuhs guter Geist in seinem
Institut, dessen Erweiterung ihn gefreut hätte, erhalten bleibe und sein
Name nicht vergessen werde.