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Medizintheorie

Das Ziel der Medizintheorie

Unabhängig davon, an welchen speziellen Gegenständen und Sachverhalten der Medizin und durch die Anwendung welcher Methoden eine medizintheoretische Betrachtung und Untersuchung erfolgt, eine solche Tätigkeit sollte möglichst einen allgemein nützlichen Sinn haben. Sie sollte also ein Ziel verfolgen zu einem allgemein nützlichen Zweck. Das Ziel und der Zweck können zum Beispiel darin bestehen, dass man gewisse Begriffe, Strukturen, Prozesse, Handlungen, Erkenntnisse oder Theorien in der Medizin oder im Gesundheitswesen besser verstehen möchte, um zu ihrer Verbesserung beitragen zu können. Man kann etwa Fragen stellen wie diese:

Was bedeutet eigentlich der weitverbreitete, ja unumgängliche Begriff der Krankheit? Hat die Medizin einen bestimmten, klaren Krankheitsbegriff? Braucht sie überhaupt einen solchen? Wie stellt der Arzt seine Diagnosen und warum sind viele davon falsch? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen den naturwissenschaftlichen Entwicklungen in der Pathologie und dem Verständnis oder Unverständnis für das menschliche Leiden? Was ist eine medizinische Erkenntnis? Wie sieht die Theorie der, sagen wir, Autoimmunität im einzelnen aus, welche begrifflich-logische Struktur hat sie? U.ä.

Es stellt sich die Frage, worin der Sinn eines solchen Verstehenwollens und Verstehens selbst bestehen soll? Leider handelt es sich dabei nicht selten nur um einen Selbstzweck, der dazu dient, den Betrachter und Wissenschaftler selbst intellektuell zu befriedigen, ihm eine Arbeitsstelle zu verschaffen oder ihm zu Publikationen und zu größerem Ansehen und Ruhm zu verhelfen. Man trifft es häufig in den geisteswissenschaftlich-philosophischen Bereichen und bei medizin-externen Leuten an, die die Medizin von außerhalb zum eigenen Vergnügen betrachten [1]. Das mag zwar für die betreffenden Personen seine Berechtigung haben. Aber es ist auch zu bedenken, dass die Medizin von solchem Betrachten und Nachdenken profitieren könnte, wenn es auf eine Weise geschähe, dass es Resultate lieferte, die man in der Medizin und im Gesundheitswesen zum Nutzen der Kranken und Leidenden verwerten könnte, zum Beispiel durch ihren Beitrag zur Verbesserung des ärztlichen Denkens, Forschens und Handelns. Ich nenne eine solche Medizintheorie eine praxisrelevante Medizintheorie, andernfalls eine praxisirrelevante.

Das Ziel der Medizintheorie sollte die Maximierung ihrer Praxisrelevanz und die Minimierung ihrer Praxisirrelevanz sein. Je weniger praxisrelevant eine medizintheoretische Arbeit ist, desto überflüssiger ist sie. Desto dringender ist daher auch ihre Unterlassung, weil es in der Medizin Wichtigeres zu tun gibt und mit Hilfe der Ressourcen aller Art, die man dafür verwendet, man Wertvolleres zustandebringen könnte. Sofern und solange die Medizintheorie nicht in der Lage ist, ihre Praxisrelevanz unter Beweis zu stellen, wird sie nutzlos und überflüssig sein. Dabei ist es mir wohl klar, dass der Begriff der Praxisrelevanz selbst explikationsbedürftig ist. Er sollte daher und zuvörderst selbst auch zum Gegenstand der Medizintheorie gehören.

Anmerkung:

[1] Ein gutes Beispiel dafür ist das Meiste dessen, was in angelsächsischen und skandinavischen Ländern als Medizinphilosophie verkauft wird. Auch in den Werken großer Philosophen findet man gleichermaßen Medizinpseudophilosophisches, so zum Beispiel in: Hans-Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit - Aufsätze und Vorträge. Frankfurt: Suhrkamp, 2010.